War früher alles besser? Diese Frage wurde eigentlich von jeder Generation bejaht, die dazu neigte, die Vergangenheit zu vergolden. Trotz des verklärten Blicks zurück, der alles etwas besser erscheinen lässt, als es vielleicht in Wirklichkeit war, will ich dieser Frage nachgehen und versuchen, nach meinen eigenen Erinnerungen zu beurteilen, ob nicht doch etwas dran ist an der Behauptung: Früher war alles besser!
- Kindheit: Meine Kindheit fand in den fünfziger Jahren statt, als Deutschland im Wiederaufbaumodus war. Ein paar markante Unterschiede zur heutigen Zeit will ich doch versuchen herauszuarbeiten:
- Phantasie statt Programm: Kinder hatten keine Entertainer oder Unterhaltungsprogramme, die auf die Bedürfnisse des Kindes zugeschnitten waren. Es gab wenig Spielzeug und jeder Junge war froh, wenn er einen Fußball hatte und jedes Mädchen freute sich über eine eigene Puppe. Spielen war eine Sache der eigenen Phantasie, die gebraucht wurde, um aus einfachen Materialien eigene Spielsachen zu kreieren. Aus Stöcken, die unten etwas gebogen waren, wurden Hockeyschläger, aus Ästen wurden Baumhäuser gebaut und ein alter Haken, den Bauarbeiter liegen gelassen hatten, wurde zum Abräumen von alten Trümmerresten gebraucht, die damals überall noch zu sehen waren. Es wurden eigene Regeln für Spiele aufgestellt oder einfach neue Spiele erfunden. Das Fernsehgerät wurde erst in meiner Familie angeschafft, als ich schon in die Schule ging, also war das Lesen eine Hauptbeschäftigung. Für zu Hause gab es nur Halma, Mühle oder „Mensch-ärgere-dich-nicht“-Spiele, die nur mit anderen gemeinsam gespielt werden konnten.
- Kindheit als geschützter Raum: Kindheit war ein von der Erwachsenenwelt verschiedener Bereich, in dem sich die Erwachsenen auch nicht einmischten. Die Erwachsenen kümmerten sich auch nicht darum, was Kinder trieben, wenn sie spielten. Das Spiel war ein von Geboten und Vorschlägen der Erwachsenen geschützter Raum, in dem das Kind sich nach eigenen Vorstellungen entfalten konnte. Aber auch Kinder hatten keinen Zugang zur Erwachsenenwelt, daran hatten wir auch kein Interesse, denn die eigene Welt war wichtiger als die „große Welt“ der Erwachsenen.
- Kinder waren selten allein: Wenn die Schulaufgaben erledigt waren, trafen wir uns mit anderen Kindern, denn Kinder waren immer irgendwo zu treffen. Ich brauchte nur aus dem Fenster sehen und schon sah ich spielende Kinder herumlaufen und deshalb waren Kinder selten allein: Entweder spielten wir im Freien oder waren zu Hause bei anderen Kindern oder ich lud Nachbarkinder zu mir ein. Langeweile gab es deshalb selten, denn irgendeiner hatte immer eine Idee, was wir unternehmen konnten. Der von Eltern manchmal verhängte „Stubenarrest“ war noch wirklich eine Strafe, weil dies den Verzicht auf den Kontakt mit den bekannten Kameraden, die man aus der Wohngegend kannte, bedeutete.
- Jugendzeit: Die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt war eine, die sich bei mir in den sechziger Jahren abspielte. Sie war eine Zeit des Übergangs von der relativ unbeschwerten Kindheit in die Welt der Erwachsenen.
- Späte Pubertät: Die Pubertät setzte wirklich erst mit vierzehn Jahren ein, bei den Mädchen etwas früher und damit das Interesse am anderen Geschlecht. Dieses Interesse war wirklich vorher nicht vorhanden, denn Mädchen waren aus Sicht der Jungen in der Kindheit einfach „doof“. Dass mit dem Erwachen der Sexualität auch die heile Kindheit beendet und nun die „wilden Jahre“ beginnen sollte, war etwas, was erst rückblickend gesehen bemerkenswert ist. Dass Jungen nun plötzlich Mädchen gar nicht mehr doof fanden, sondern sich für sie interessierte, hätte einen stutzig machen müssen – hat es aber nicht, weil dies selbstverständlich war.
- Spiele nicht unwichtig: Das freie Spiel war auch in der Pubertät nicht ohne Bedeutung, doch die Spiele wurden etwas gewagter, risikoreicher: Mit dem Schlitten im Winter die „Todesbahn“ (vereiste Bergpiste) herunterrasen, Räuber und Gendarmspiele – aber mit echten „Gefangenen“, Heruntersausen mit dem Fahrrad auf Wegen hinab von Berghängen, Lagerfeuer entfachen auf der freien Wiese – bis die Feuerwehr kam, Staudämme bauen – bis ganze Landschaften unter Wasser standen.
- Geschlechter: Die Polarität zwischen Mann und Frau war stark ausgeprägt, denn entweder zählte man zum harten männlichen Geschlecht oder zu dem weichen weiblichen Geschlecht. Die Welten der Männer und Frauen waren verschieden und geschlechtsspezifisch geprägt. Es gab nur geringe „Vermischungen“ – dass Frauen typische Männerberufe wählten wie z. B. einen Handwerksberuf – oder Männer einen typischen Frauenberuf – wie z. B. in der Krankenpflege – ausübten. Die Welten, obwohl sie verschieden waren, ergänzten sich aber zu einem sinnvollen Ganzen.
- Frauen: Frauen waren schon von weitem zu erkennen, denn ihre sekundären Geschlechtsmerkmale scheuten sie sich nicht zu zeigen – ganz im Gegenteil, sie wurden betont und wenn die Natur den gewünschten Effekt nicht freiwillig zeigen wollte, wurde mit Korsetts nachgeholfen. Sobald ein Mädchen die Pubertät erreicht hatte, versuchte dieses es den erwachsenen Frauen nachzumachen und ihre Weiblichkeit zu betonen: Enge Röcke, „Atombusen“ durch spitze BH´s, Lippenstift und Rouge, um die scheue Gesichtsröte zu betonen. Friseure hatten damals Hochkonjunktur, denn Frauen saßen stundenlang regelmäßig unter Trockenhauben, nachdem die regelmäßige Dauerwelle eingedreht worden war. Frauen hatten kein Problem mit ihrer Weiblichkeit und in ihrem Daseinshorizont stand regelmäßig der Wunsch, einem Mann zu gefallen. Eine Ehefrau, Mutter und „nur“ Hausfrau zu sein, war kein Makel, sondern eine Auszeichnung. Insgeheim waren sie der Mittelpunkt der Familie, die einen hohen Stellenwert hatte. Das gemeinsame Mittagessen, an dem alle zusammenkamen, war eine „heilige“ Zeit, denn nicht nur das gemeinsame Einnehmen der Mahlzeit war wichtig, sondern der Austausch miteinander. Die Freizeitinteressen lagen auch in dem Bereich der Familie, dem Austausch mit Geschlechtsgenossinnen („Kaffeekränzchen“) und dem Herstellen eigener Kleidung (jede Frau hatte eine Nähmaschine und konnte damit umgehen). Die berufstätige Frau war eine Ausnahme und nicht die Regel. Meine Mutter half meinem Vater, der Gerichtsvollzieher war, im Büro mit, was eigentlich fast nicht üblich war.
- Männer: Männer hatten klare Vorstellungen von dem, was sie in ihrem Leben erreichen wollten: Einen Beruf erlernen (das Wort Job gab es noch nicht), den man möglichst lange ausüben kann, um sich selbst und auch eine Familie ernähren zu können. Der Stolz eines Mannes lag also einmal darin, Erfolg im Beruf zu haben, also etwas leisten zu können und zum anderen darin, eine Familie zu haben, als dessen „Oberhaupt“ er sich sah. Mit einem Gehalt eine Familie ernähren zu können, war damals noch möglich. Männer hatten typisch männliche Freizeitbeschäftigungen. Entweder sie übten selbst eine Kampf-Sportart - wie z. B. Fußball - aus oder interessierten sich dafür. Der allsamstägliche Gang auf dem Fußballplatz mit anderen Männern war selbstverständlich. Männer trafen sich regelmäßig im Wirtshaus und spielten Skat und erzählten sich dabei zotige Witze – Besäufnisse gab es dabei sicher auch.
- Ausländer: Die ersten Ausländer waren „Italiener“, die mit ihren Restaurants die Innenstadt bevölkerten und die bis dahin relativ unbekannten typischen italienischen Gerichte darboten (Pizza, Pasta). Auf den Straßen und in der Stadt war das Bild immer noch geprägt von den typisch deutschen Bewohnern. In den Schulen gab es keine oder nur ganz wenig Kinder von Ausländern, so dass die Sprache überhaupt kein Problem darstellte, jeder sprach in deutscher Muttersprache. Es gab keine Messerstechereien, Gruppenvergewaltigungen und keine Drogenkriminalität, sondern nur die „üblichen“ Straftaten wie Diebstahl, Betrug oder Mord und Totschlag.
- Wetter: Das Wetter war damals noch extremer, denn im Winter lag regelmäßig Schnee. Selbst im Darmstadt, wo ich damals wohnte, konnte ich immer in den Weihnachtsferien den Schlitten aus dem Keller holen und auf dem Woog Schlittschuh laufen, weil dieses Gewässer regelmäßig zugefroren war. Aber im Sommer war es immer so warm, dass der Besuch im Freibad in den Sommerferien an der Tagesordnung war. Das Wort „Klima“ gab es damals noch nicht, denn alles drehte sich nur ums Wetter, das so hingenommen wurde, wie es eben war.
- Politik: Die Politik war eigentlich fast unwichtig, denn die machten eben die Politiker, die dafür bezahlt wurden. Es gab so etwas wie eine politikfreie Zone, in der jeder lebte, weil die meisten erst einmal damit beschäftigt waren, ihren Alltag zu bewältigen, arbeiten zu gehen und sich um die eigene Familie zu kümmern. Die Informationen bezog jeder aus dem Radio und später aus der abendlichen Tagesschau, die es auch damals schon gab. Der Alltag des normalen Bürgers war relativ unpolitisch und nur spektakuläre Ereignisse ließen den Menschen einmal kurz aufschrecken. Man entwickelte abseits der politischen Landschaft einen gewissen Stolz auf das, was Deutsche mit eigener Kraft nach dem zweiten Weltkrieg geleistet haben.
- Schule: Die Schule war ein Hort des Lernens, wo jeder Schüler noch Respekt vor dem Lehrer hatte. Die Autorität des Lehrers wurde nicht grundsätzlich in Frage gestellt und schon gar nicht der Lehrer kritisiert oder sogar angegriffen. Der „Frontalunterricht“ war die Norm und es gab keine pädagogischen Experimente. Die Schulzeit begann noch zu Ostern, so dass die Sommerferien mitten in das Schuljahr fielen, was angenehmer war. Die Zeugnisse enthielten noch die „Kopfnoten“: Betragen, Ordnung, Fleiß und Aufmerksamkeit und das „Schönschreiben“ wurde noch benotet. Ich lernte noch nach der Methode das Lesen und Schreiben, dass zuerst die einzelnen Buchstaben gelernt, die dann zu einfachen und später komplizierteren Worten zusammengesetzt wurden (synthetische Methode). Genauso lernte ich auch die Satzbildung, die mit einfachen Zwei- oder Dreiwortsätzen begann und sich später zu längeren Sätzen erweiterte.
- Beruf: Einen Beruf zu lernen, war einfach selbstverständlich. Die Lehre (Bankkaufmann), die ich durchlief, war relativ unspektakulär und es wurde nach dem Motto gelernt: Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Ein Aufmucken gab es nicht. Es war für mich nicht ehrenrührig, für die Angestellten morgens das Frühstück einzukaufen, auch wenn das nicht zum Lehrplan gehörte. So ging ich jeden Morgen in die Stadt und genoss auch den Gang durch die Innenstadt von Darmstadt. Als Begründung für diesen alltäglichen Einkauf wurde mir erklärt, dass ich auf diese Weise das Abrechnen der Geldbeträge mit den einzelnen Angestellten trainieren könnte. Es gab auch noch keine hohe Arbeitslosigkeit, so dass jeder, der einen Beruf gelernt hatte, sicher sein konnte, dass er in dem erlernten Beruf auch eine Arbeitsstelle fand.
Was sind die gravierenden Unterschiede der heutigen Zeit zu der „guten alten Zeit“? Ich will die aus meiner Rückschau gravierendsten Differenzen nennen:
- Respekt statt Respektlosigkeit: Die „wilden Siebziger“ haben die alten Autoritäten von den Sockeln gehoben und zerstört; die damit einhergehende Demontage ging aber so weit, dass dadurch eine Respektlosigkeit eingetreten ist. Eine Luisa Neubauer oder Greta Thunberg wären damals nicht denkbar gewesen. Man hätte sie als „altklug“ und „hochnäsig“ bezeichnet und nicht diesen Raum eingeräumt, den diese jungen Frauen heute ohne eine ausreichende Lebenserfahrung genießen. Überhaupt erscheint die Lebenserfahrung heute nichts mehr wert zu sein, weil alles modern und progressiv sein muss. Früher erbrachte man den Alten gegenüber Respekt, was auch ein Prinzip in der Erziehung war, dass die Lebenserfahrung gewürdigt werden soll; heute ist davon nichts mehr übrig geblieben.
- Prinzipientreue statt Prinzipienlosigkeit: Früher gab es noch so etwas wie feste, unverrückbare Grundsätze, die nicht infrage zu stellen waren. Das hatte auch etwas mit dem Einfluss der Kirchen zu tun, die noch einen festen Kanon an Werten verkörperten, der dem christlichen Menschenbild entsprach, wonach jeder Mensch ein Abbild Gotte ist, da der Mensch als ein von Gott geschaffenes Wesen angesehen wurde. Die Ehrerbietung gegenüber dem anderen, die Treue in den Beziehungen, die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit oder die Achtung vor dem Eigentum des anderen waren feste Prinzipien, die heute der Relativität in allen Belangen gewichen ist. Da heute „alles relativ“ ist, entsteht ein prinzipienfreier Raum, in dem nur der Opportunismus und die Selbstsucht gedeihen können.
- Rollenklarheit statt Rollenkonfusion: Die Rollen waren klar definiert, denn Frauen und Männer hatten sich mit ihren sozialen Rollen identifiziert und dadurch in ihrer gelebten Unterschiedlichkeit sich gegenseitig befruchtet und sinnvoll ergänzt. Kinder waren noch in ihrer Kindheit geduldet und durften Kind sein, ohne dass ihnen durch nicht-altersgerechte Indoktrinationen diese kindliche Unschuld genommen wurde. Heute wird den Kindern durch Frühsexualisierung und zu frühe Präsentation von erwachsenen Vorbildern (Starkult) ihnen die Unbefangenheit genommen.
- Familie statt soziales Konstrukt: Kinder brauchen eine „heile Familie“ auch wenn sie nicht immer heil ist. Kinder spielen „Vater-Mutter-Kind“, weil dieses Vorbild die ihnen gemäße natürliche Umgebung ist, in der sie zu gesunden Menschen aufwachsen können. Eine Familie kann nicht durch eine noch so gut durchdachte andere soziale Konstruktion des Zusammenlebens von Menschen ersetzt werden. Die heutige Gleichmacherei sozialer Beziehungen (Patchwork, Homoehe), in denen Kinder aufwachsen sollen, in denen sie keine klaren Strukturen mehr erkennen, lässt sie verunsichern.
- Nationalstolz statt Nationalscham: Deutscher zu sein, war früher eine Selbstverständlichkeit, denn fast jeder bekannte sich zu seiner geschichtlichen Vergangenheit – auch wenn das nicht immer einfach war – und zu dem, was Deutsche geleistet haben, gerade im Hinblick auf die Zerstörung Deutschlands durch den zweiten Weltkrieg mit dem Desaster, das nach dem Zusammenbruch deutlich wurde. Dass trotzdem Deutschland wieder aufgebaut wurde, ist eine Leistung, auf die Deutsche stolz sein könnten – aber nicht dürfen, folgt man der modernen Diktion. Denn deutsch zu sein, heißt heute: schuldig sein an dem Elend der Welt, weswegen wir Menschen aus aller Welt ins Land kommen lassen sollen. Wir sollen nicht ein Deutscher, sondern allenfalls ein Europäer oder Weltbürger sein.
War wirklich früher alles besser? Nein, nicht alles, nur eben in der Rückschau, die so manchem fehlt, der noch nicht das entsprechende Alter hat, war das Leben in gewisser Weise geordneter, ruhiger, zukunftsfroher und auch sinnerfüllter.
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