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In der Corona-Krise wird in letzter Zeit oft von systemrelevanten Berufen und Unternehmen gesprochen. Als unverzichtbar galt eine Weile, zumindest im Hinblick auf die Frage, ob ein Anspruch auf die „Notfallbetreuung“ eines Kindes in einer Kita besteht, ob jemand in einem „systemrelevanten“ Beruf tätig ist. Aber was ist systemrelevant? Für welches System sind bestimmte Personen notwendig?

  • Finanzkapitalismus – systemrelevant? Die Realwirtschaft steht der Finanzwirtschaft gegenüber. In der Realwirtschaft werden tatsächlich Werte geschaffen, die für Menschen konkret brauchbar sind: Nahrungsmittel, Kleidung, Autos, Möbel, Häuser, also alles was man real sehen und anfassen kann, aber auch wichtige Dienstleistungen wie z. B. ärztliche Leistungen oder Pflegeleistungen. Dem steht die Finanzwirtschaft gegenüber, die überhaupt keine realen Werte schafft außer ein paar Zahlen auf dem Papier (oder im Computer). Aber durch die Engagements in vielen Unternehmungen durch Kreditvergaben oder auch durch Beteiligungen von Großinvestoren in weiten Bereichen der Realwirtschaft haben sie einen großen Einfluss auf die Gesamtwirtschaft. In der Bankenkrise im Jahre 2007 kam der Begriff der Systemrelevanz erst so richtig auf (weiterlesen), weil bestimmte Banken einfach all zu wichtig angesehen wurden, um sie „untergehen zu lassen“ („to big to fail“). Folglich wurden Milliarden von EURO/Dollar in das System gepumpt, damit es nicht abstürzt – und das auf Kosten der Steuerzahler. Die Idee war einfach: Fallen diese Großbanken, dann reißen sie in einem Art Domino-Effekt andere Banken und auch durch die Verflechtung mit der gesamten Wirtschaft viele andere Unternehmen mit in den Sog einer großen wirtschaftlichen Depression hinein. Es spielte dabei keinerlei Rolle, dass Vorstände und Aufsichtsräte vorher die Gewinne abgeschöpft hatten. Man kann auch sagen: Gewinne werden mitgenommen, Verluste vergesellschaftet.
  • Systemrelevante Berufe in der Corona-Krise: In der Corona-Krise wurde das Thema, wer ist systemrelevant, wieder hochgekocht, weil nur der Anspruch hatte auf einen Kita-Platz – man erinnere sich, dass auch diese Einrichtungen in der Hochzeit im Frühjahr 2020, außer für eine Art „Notbetreuung“ geschlossen waren - wer den Nachweis führen konnte, dass er in einem systemrelevanten Bereich berufstätig war. Diese wurden i.d.R. für folgende Bereiche bejaht: Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst und Hilfsorganisationen, die Justizvollzuganstalten, Krisenstabpersonal, Personal zur Sicherstellung der öffentlichen Infrastrukturen (Telekommunikationsdienste, Energie, Wasser, öffentlicher Nahverkehr, Entsorgung), Personal im Gesundheitsbereich (insbesondere ärztliches Personal, Pflegepersonal und medizinische Fachangestellte, Reinigungspersonal, sonstiges Personal in Krankenhäusern, Arztpraxen, Laboren, Beschaffung, Apotheken), Personal im Pflegebereich, Schlüsselfunktionsträger in öffentlichen Einrichtungen und Behörden von Bund und Ländern, Senatsverwaltungen, Bezirksämtern, Landesämtern und nachgeordneten Behörden, Jobcentern und öffentlichen Hilfeangeboten und Notdienste, Personal, das die Notversorgung in Kita und Schule sichert und Personal der kritischen Infrastruktur und der Grund- beziehungsweise Lebensmittelversorgung (weiterlesen). Auch fällt auf, dass in den systemrelevanten Bereichen vor allem Frauen beschäftigt sind, so z. B. in der Pflege, beim Reinigungspersonal, in der Nahrungsmittelbranche oder in den Kinderbetreuungseinrichtungen (weiterlesen). Das hat auch die Familienministerin Franziska Giffey mitbekommen und festgestellt, dass gerade im Pflegebereich Nachwuchssorgen bestehen, weil überwiegend Frauen in diesem Bereich arbeiten und Männer aufgrund der geringen Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten den Pflegeberuf meiden. Deshalb wurde in der ersten Folge der 6-teiligen Serie von „Ehrenpflegas“ ein Mann gezeigt, der wohl etwas Mühe mit der deutschen Sprache hat, denn gleich am Anfang sagte ein gewisser Boris: „Ich bin 25 Jahre alt und gehe 1. Klasse“, 1. Klasse Pflegeschule.“ (ansehen). Damit wird klar suggeriert, dass man ruhig männlich und ein bisschen blöde sein kann, um den Pflegeberuf zu lernen, zumal dann im Kontrast hierzu die intelligente Katrin Fuchner-Karelyoun, genannt „Harry Potter“, das Heft in die Hand nimmt: „Ich übernehm´ jetzt das Erzählen von Boris ab hier, damit das nicht zu bildungsfern wird.“(ansehen) . Es ist zu bezweifeln, ob man mit einem solchen Filmprojekt mehr Männer für den systemrelevanten Pflegeberuf wird begeistern können.
  • Kritische Infrastruktur: Fast synonym zur Systemrelevanz wird auch der Begriff "Kritische Infrastruktur" (ansehen) verwendet, um deutlich zu machen, welche Bereiche der Gesellschaft zum reibungslosen Ablauf gehören, damit die Bevölkerung mit notwendigen Nahrungsmitteln, Energie, Wasser, Informationen versorgt und die öffentliche Sicherheit gewährleistet wird. Das Bundesamt für den Katastrophenschutz definiert auf seiner Homepage diesen Begriff folgendermaßen: „Kritische Infrastrukturen (KRITIS) sind Organisationen oder Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden.“ (weiterlesen).  
  • Kunst und Kultur - nicht systemrelevant? Bei der Frage, wer systemrelevant ist, geht es i.d.R. um das reine physische Überleben des Menschen. Der Staat muss also dafür sorgen, dass die „Kritische Infrastruktur“ aufrechterhalten werden kann. Hierzu zählen nicht die Kunst und die Kulturbetriebe; zu letzteren könnte man auch die Religionsgemeinschaften rechnen, da ihre Tätigkeit auch nicht das physische Überleben sichern helfen. Der „Lockdown“ betraf auch hauptsächlich diese Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, so dass die entsprechenden Einrichtungen wie Musen, Kinos und Theaterbühnen, aber auch Kleinkunst-Bühnen geschlossen werden mussten. Darunter hatten auch diejenigen gelitten, die vor Publikum auftreten: Kabarettisten. Diese hätten aber gerade in den angespannten Zeiten eine wichtige Aufgabe zu erfüllen: Kritik an den Corona-Maßnahmen zu üben und als Ventil zu dienen für viele, die unter den Maßnahmen leiden müssen. Die Wut derer, die von der Politik „ausgebremst“ wurden, ist verständlich, die z. B. von „Didi“ Hallervorden zur Sprache gebracht wurde, in dem er in der Sendung „Bei uns füllen sich die Stadien, bei anderen die Kliniken – hat Deutschland Corona-Dusel“ (Hart aber fair vom 21.09.2020 in der ARD) auf die negativen Voraussagen des SPD-„Experten" Karl Lauterbach herausplatzt: „Das sind für mich keine Warnungen mehr, das ist Panikmache. Ich finde, da hilft man auch den Leuten nicht mit. Man muss doch irgendwo die Hoffnung haben, dass es besser wird.“ (ansehen). In weiteren Gesprächen zu dem Thema erläuterte er die Schwierigkeiten, mit denen er und eine ganze Branche zu kämpfen haben, die, obwohl sie alle Auflagen erfüllen und für regelmäßiges Lüften und Abstandhalten sorgen, sich von der Politik im Stich gelassen sehen. Sein kleines Theater „Wühlmäuse“ blieb nur noch am Leben, weil er aus seinem Privatvermögen ständig die Defizite ausglich, doch musste er doch irgendwann aufgeben und dem gesamten Ensemble kündigen (ansehen).  So wie ihm erging es vielen, die als Solisten oder in Gemeinschaft mit anderen im Kunst- und Kulturbetrieb tätig sind.  
  • Der falsche Glanz der Schein-Systemrelevanten: Ist das Europäische Parlament systemrelevant? Diese Frage stellte am 20.04.2020 Guido Reil in einem entsprechenden Video und verwies darauf, dass das prächtige Parlamentsgebäude in Brüssel schon seit vier Wochen völlig menschenleer ist, weil alle Parlamentarier wegen der Corona-Krise nach Hause geschickt wurden (ansehen). Sehe ich nach Rom und dort den Vatikan mit den pompösen Gebäuden und einen Papst mit großen Gesten seine Botschaften verlesen, sehe ich den Dienstsitz des Bundespräsidenten in Berlin, in dem ein Bundespräsident Staatsempfänge zelebriert und denke ich an andere „Spitzenfunktionäre“ unserer Gesellschaft, dann fällt mir immer der Kontrast zwischen der pompösen Ausstattung der Gebäude, dem wichtigtuerischem Gehabe der Amtsträger und ihrer eigentlichen Irrelevanz für die Gesellschaft auf. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Als ich noch berufstätig war, wurde die Abwesenheit des Geschäftsführers wegen seines Urlaubs kaum bemerkt, denn alles lief weiterhin problemlos weiter, weil jeder an seinem Arbeitsplatz auch ohne „Überwachung von oben“ wusste was zu tun war. Daraus leite ich die Hypothese ab: Je höher die soziale Position einer Person ist, desto unbedeutender ist sie eigentlich für das System, das sie repräsentiert. Wissenschaftlich formuliert: Die Systemrelevanz korreliert negativ mit dem aufsteigenden sozialen Status. Konkret formuliert: Wenn in einer Stadt die Müllabfuhr für ein paar Wochen ausfiele wäre dies also systemrelevanter als wenn der Bürgermeister für diese Zeit aus welchen Gründen auch immer abwesend wäre.

Letztendlich kommt es immer auf die Frage an, welches System gemeint ist: In einem jeweiligen System, in dem jemand lebt, definiert er selbst seine Relevanz für andere. Für die Familie hat jedes Familienmitglied seine Relevanz aufgrund der Rolle, die es spielt. In einem Betrieb gibt es sicher unterschiedlich wichtige Funktionen zu erfüllen; fallen bestimmte Personen für längere Zeit aus, bemerken erst dann die anderen ihre Relevanz – auch und vor allem im Hinblick auf die Bedeutung für den „Geist“ des Betriebes: Derjenige, der sich mit der Lösung technischer Probleme gut auskennt ist genauso wichtig wie der „Witzbold“, der durch seine gute Laune und Scherze eine angespannte Situation entschärfen kann. Die Relevanz von Personen misst sich nicht an der Gehaltsliste, sondern daran, welche Bedeutung jemand für andere hat, weil er sich nicht nur um sich selbst kümmert, sondern sich für andere einsetzt.  

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