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Es geht das Gerücht um, dass wir in Zeiten leben, in denen die Menschen zunehmend verrohen, ihre guten Manieren anscheinend vergessen haben und ungehobelt, ausfällig und rücksichtslos agieren. Junge Menschen stehen nicht mehr auf, wenn ein alter Mensch den Bus betritt und keinen Sitzplatz findet, Müll wird einfach in die Landschaft gekippt, Politiker nehmen es nicht mit der Wahrheit so genau und reden so wie sie es brauchen. Kurz: Menschen scheint etwas abhandengekommen zu sein, das etwas antiquiert klingt: Tugenden. Was hat es mit den Tugenden auf sich?

  • Laster und Tugenden als ungleiche Geschwister: Wir leben in einer Welt der Gegensätze. Diese Gegensätze sind entweder in Form der Polarität (gegenpolige, sich gegenseitig nicht ausschließende Gegensätze, die gleichwertig sind) und Dualität (sich gegenseitig ausschließende, nicht gleichwertige Gegensätze) präsentieren[1]. Deshalb hat auch die Tugend immer einen Gegensatz, nämlich das Laster. Die Pünktlichkeit ist sicher eine Tugend, die unser Alltagsleben erleichtert, die Unpünktlichkeit ein Laster, das uns Probleme bereitet. Auch die Sparsamkeit ist eine Tugend, die in dem Geiz einen Gegensatz als Laster findet. Nun gibt es eine „Entdeckung“, die Schulz von Thun in seinem „Wertequadrat und Entwicklungsquadrat“ beschrieben hat[2], das auf einen Philosophie-Professor Nicolai Hartmann (1882 – 1950)[3] zurückgeht, bei dem ein Paul Helwig (1893 – 1963)[4] studiert und promoviert hatte und dessen Ideen er weiter entwickelt und publik gemacht hat. Wenn man sich das Gegensatzpaar Geiz – Sparsamkeit ansieht, dann kann man erkennen, dass es noch etwas anderes gibt, nämlich nicht den Gegensatz, sondern die Übertreibung. So gesehen befinden sich auf der positiven Werteebene die Sparsamkeit und die Großzügigkeit auf „Augenhöhe“ und sind absolut gleichwertig, denn die Sparsamkeit als singuläre Tugend genommen wäre ohne die Großzügigkeit als Parallel-Tugend unvollständig. Ihre negativen Übertreibungen stehen dann auf der „Unwerteebene“ und wären dann Laster. Aus Sparsamkeit kann Geiz entstehen und aus der Großzügigkeit die Verschwendung. Schulz von Thun nennt seine Werte-Quadrate auch deshalb „Entwicklungsquadrate“ weil jemand, der sich in seinem Verhalten auf der unteren Ebene des Lasters befindet und z. B. zur Verschwendung neigt, lernen und sich damit weiterentwickeln sollte, sparsam zu werden und derjenige, der geizig ist sollte lernen, auch etwas großzügiger zu sein.

                       Sparsamkeit         ---------------------------                    Großzügigkeit         "Werteebene"

 

                        Geiz                 ----------------------------                  Verschwendung       "Unwerteebene"

  • System der Tugenden: Tugenden können nach mehreren Gesichtspunkten eingeteilt und damit systematisiert werden[5]. Ich bevorzuge eine Einteilung, die darauf gerichtet ist, wofür eine Tugend vorwiegend dienlich sein soll. Tugenden dienen einmal dazu, mit uns selbst besser klar zu kommen, weil mit ihnen unsere Schwächen besser bekämpft werden können, so dass sie zur „Selbstveredelung“ führen. Sie dienen somit dann der Selbststeuerung. Es gibt aber auch Tugenden, die uns den Umgang mit der Welt, insbesondere mit anderen Menschen, erleichtern und damit ein verträglicheres Miteinander regeln und auch zu einem Ausgleich unterschiedlicher Interessen führen[6].
  • Tugenden der Selbststeuerung: Die wichtigsten Tugenden, die vorwiegend den Umgang mit uns selbst erleichtern sind die Mäßigung, die Geduld, die Demut, die Einfachheit, und die Aufrichtigkeit. Hinzu kommen Tugenden, die als Brücke zu den sozialen Kompetenzen dienen: der Fleiß, die Gewissenhaftigkeit, die Ordentlichkeit, die Reinlichkeit (Reinheit), die Sparsamkeit (bürgerliche Tugenden[7]) und der Mut.
    • Mäßigung: Die Mäßigung dient insofern der Selbststeuerung, als eben das gegenteilige Laster, nämlich die Maßlosigkeit, uns ins Verderben führt. Man stelle sich einen Menschen vor, der z. B. sich in der Aufnahme von Lebensmitteln nicht zurückhalten kann: Fettsucht, Diabetes, Gelenkprobleme, Herzinfarkt und Schlaganfall sind die fast unausweichlichen Folgen. Diese „Kardinaltugend“ nach Platon wurde aus dem Griechischen (sophrosyne) im Lateinischen mit temperantia übersetzt und hat keine adäquate deutsche Übersetzung gefunden[8] (Besonnenheit, Beherrschtheit), bedeutet aber im Kern alles das gleiche, dass jemand das „rechte Maß“ einhält und sich nicht treiben lässt von seinen eigenen Begehrlichkeiten.
    • Geduld: Die Geduld ist die Mutter der Gelassenheit, weil sie uns dazu führt, mit unerfüllten Wünschen, Schwierigkeiten im Alltag und Leiden zu leben[9], ohne auszurasten oder in Depressionen zu verfallen. Derjenige, der ungeduldig ist, wird auch gern als Choleriker bezeichnet, weil er im Stress ungeduldig reagiert und damit nicht nur sich selbst schadet, sondern ausgesprochen soziallästig wird.
    • Demut: Die Demut ist Tugend des Erkennens der eigenen Unzulänglichkeit. Diese Unzulänglichkeit bezieht sich auf die eigenen Fähigkeiten (etwas tun zu können), eigenen Stärken (besondere, herausragende Begabungen) und Möglichkeiten (etwas erreichen oder verwirklichen zu können). Die eigenen Beschränkungen zu erkennen ist demütig und ermöglicht es uns, die reale Stellung in unserer Welt zu akzeptieren.
    • Die Einfachheit: Die Einfachheit ist nicht zu verwechseln mit der Einfältigkeit, die meistens eine intellektuelle Beschränktheit beschreibt. Wer einfach ist, ist klar in dem was er denkt, fühlt und sagt. Die Doppeldeutigkeit ist das Gegenteil der Einfachheit (André Comte-Sponville).
    • Aufrichtigkeit: Wer aufrichtig ist, bleibt bei seinen Überzeugungen, lässt sich nicht darin beirren und vertritt sie auch nach außen. Somit gibt es eine Kongruenz zwischen dem was jemand denkt, sagt und tut. Aufrichtigkeit ist die Ehrlichkeit zu sich selbst, indem auch nichts (auch keine Fehler) beschönigt wird.
    • Mut: Der Mut wird auch als Tapferkeit bezeichnet. Der Mut ist eine Tugend, die Menschen befähigt, die eigene Standhaftigkeit nach außen hin zu zeigen und in die Tat umzusetzen. Wer sich gegen die Mehrheitsmeinung stellt, wer das nicht tut, was ein Vorgesetzter anordnet, weil es den eigenen Überzeugungen widerspricht, ist mutig. Der Mut wird in seiner negativen Übertreibung zur Tollkühnheit, weil dann alle Vorsichtsmaßnahmen außeracht gelassen werden. Wer mutig ist, riskiert auch eine Niederlage ein – aber wird auch mit dem Sieg belohnt, wenn es gut geht.
    • Fleiß: Der Fleiß ist das Gegenteil von Faulheit und ermöglicht es, sich selbst zu überwinden, um das in die Tat umzusetzen, was man eigentlich selbst will. Fleiß ist der Ausdruck einer Leistungsmotiviertheit, also dem Willen Ausdruck zu verleihen, etwas zustande zu bringen, was der eigenen Intention entspricht.
    • Gewissenhaftigkeit: Wer gewissenhaft arbeitet, will damit vor seinem eigenen Gewissen bestehen können, in dem, was er tut. Dabei versucht er von seiner Intention her gesehen, „sein Bestes“ zu geben, was er kann im Hinblick auf Genauigkeit (genau das zu tun, was man sich vorgenommen hat) und Qualität. Dabei bedarf es einer gewissen Konzentrationsfähigkeit (nicht ablenken lassen) und Zielstrebigkeit.
    • Ordentlichkeit: Die Ordentlichkeit ist insofern eine Tugend, als jemand sich vorgenommen hat, etwas systematisch, strukturiert zu tun, um dadurch nicht in ein Chaos zu verfallen, das ihm die Übersicht raubt. Wer Ordnung schafft, der verhindert ein Zerfallen in unübersichtliche Einzelteile. Wer ordentlich ist, weiß wo etwas ist (funktionelle Ordnung), er schafft sich damit ein ansehnliches Äußeres (ästhetische Ordnung).
    • Reinlichkeit (Reinheit): Die Reinlichkeit im Äußeren ist Reinheit des Menschen im Inneren entsprechend. Reinheit bedeutet als Tugend ein Nicht-Verschmutztsein des „inneren Hauses“, in dem man selbst wohnt. Die Reinheit der Gesinnung ist die der Ehrlichkeit zu sich selbst, so dass man in den Spiegel (der Wahrheit) schauen kann, ohne eine Falschheit zu erkennen. Diese innere Reinheit wird durch die Reinlichkeit des äußeren Gebarens erkennbar, bis hin auch zur eigenen Behausung.
    • Sparsamkeit: Die Sparsamkeit ist der höchst vorsichtige Umgang mit dem, was jemand hat. Wer sparsam ist, ist auch genügsam, weil er mit dem zufrieden ist, was er hat. Sparsamkeit ist die Tugend des Verzichts auf Unnötiges und die Beschränkung auf das Notwendige sowie die Abkehr vom Luxus (Überflüssiges).        
  • Tugenden als soziale Kompetenzen: Bei Tugenden, die auf die Welt und insbesondere auf Menschen gerichtet sind, formen sich in sozialen Kompetenzen aus, weil sie uns befähigen, mit anderen besser klar zu kommen und zu einem Ausgleich verschiedener Interessen zu gelangen. Hierzu zählen Höflichkeit, Humor, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein, Treue und Toleranz (umgangserleichternde Tugenden) und Gerechtigkeitssinn, Großzügigkeit, Barmherzigkeit, Sanftmut, Dankbarkeit und Unbestechlichkeit (ausgleichende Tugenden).
    • Höflichkeit: Mit der Höflichkeit wird die angemessene Art und Weise des Umgangs miteinander beschrieben, wobei die äußeren Formen (z. B. Bitte sagen, wenn man etwas haben will) auch der inneren Haltung entsprechen sollte (dass man den anderen eine ehrliche Botschaft schicken will, etwas herzugeben).
    • Humor: Mit dem Humor wird der Versuch unternommen, die Misslichkeiten, das Tragische, das Unfaire und das Ungerechte des Lebens leichter zu ertragen, sowohl für sich selbst als auch für andere. Wer als letzten Wunsch vor seiner eigenen Hinrichtung die Zigarette mit der Begründung ablehnt, dass er gehört habe, dass man davon Lungenkrebs bekommen könnte, hat Humor.
    • Ehrlichkeit: Die Ehrlichkeit ist deshalb eine wichtige Tugend, weil damit die Verlässlichkeit garantiert wird. Wenn der Glaube vorherrscht, dass hinter allem, was jemand sagt, eine Lüge stecken könnte, geht damit auch die Basis des Miteinanders verloren. Die Lüge als bewusst geäußerte Unwahrheit ist nur dann verzeihlich, wenn damit ein höherer Wert geschont oder geschützt werden soll[10].
    • Zuverlässigkeit: Die Zuverlässigkeit macht unser Leben kalkulierbar, weil damit das Zusammenleben erst ermöglicht wird. Wenn Verabredungen, Zusagen über Leistungen, etwa geregelt in einen gemeinsamen Vertrag, nicht eingehalten werden, führt dies zu einem permanenten Misstrauen. Das gegenseitige Vertrauen kann nur auf der Basis der Zuverlässigkeit gedeihen.
    • Pflichtbewusstsein: Kant war ein ausgesprochener Verfechter einer so genannten „Pflichtethik“ (Deontologie), wobei sein Augenmerk auf die Einhaltung der Pflicht gegenüber der Moral als Anspruch an den Menschen entsprechend der moralischen Maßstäbe zu handeln, gerichtet war. Im Bewusstsein, seine Pflicht zu tun, wird aber nicht einer Autorität gehorcht (pflichtmäßiges Handeln), sondern den ehernen Ansprüchen einer unpersönlichen Moral.
    • Treue: Die Treue ist die Tugend des Erinnerns (André Comte-Sponville) – an das, was versprochen wurde. Treue ist die Mutter der Verlässlichkeit: Nur wer treu ist, kann auch verlässlich sein. Treue bedeutet das Einhaltung von Zusagen, die gemacht wurden und das Einhalten der Regeln. Untreue war der „klassische Scheidungsgrund“ vor der Reform des Scheidungsrechts und bedeutet das Verlassen des gemeinsamen Versprechens, nur miteinander sexuellen Verkehr zu haben.
    • Toleranz: Die Tugend der Toleranz ist notwendig, um trotz unterschiedlicher Auffassungen von dem, was man richtig oder falsch hält und daraus resultierender verschiedener Handlungsweisen oder Unterlassungen, sich nicht gegenseitig zu bekriegen[11]. Toleranz bedeutet aber nicht Nachgiebigkeit in dem, was man selbst für richtig hält, sondern das Stehenlassen anderer Meinungen. Die Intoleranz oder Unduldsamkeit, wie sie im Deutschen heißt, dagegen ist die Ablehnung des anderen, seine Diffamierung und Ausgrenzung allein aufgrund der Tatsache, eine andere Meinung zu haben.
    • Gerechtigkeitssinn: Gerechtigkeit zu üben ist das absolute Kriterium einer humanen Gesellschaft. Gerecht zu sein als eine Tugend bedeutet, ein von der Person unabhängiges Urteilen und Handeln zu achten, das sich an absoluten Prinzipien orientiert. Weder die Besser- noch Schlechterstellung eines Menschen darf von persönlichen Eigenschaften abhängig gemacht werden. Das Gleichheitsprinzip im rechtlichen Kontext macht dies deutlich: Der Herrschende in einem Land muss vor dem Gesetz die gleichen Rechte und Pflichten haben wie der Untergebene. Wer nach Gerechtigkeit strebt, würde auch sich selbst nicht begünstigen, sondern für sich selbst dasselbe fordern wie für andere.
    • Großzügigkeit: Die Großzügigkeit ist die Schwestertugend der Sparsamkeit. Wer großzügig ist, gibt gern, wenn er kann und fragt nicht primär nach dem eigenen Vorteil. Die Großzügigkeit (Großherzigkeit bei André Comte-Sponville) ist die Tugend des Schenkens. Wer großzügig ist, gibt mehr als verlangt wird und richtet seine Freigebigkeit nach eigenen Maßstäben und nicht nach Preisen. Diese Tugend hat ihr negatives Pendant in der Habsucht (die Sucht alles an sich zu reißen, sie ist eine Unterart des Geizes, der i.e.S. das Laster des Nicht-hergeben-wollens ist).
    • Barmherzigkeit: Die Barmherzigkeit ist die Tugend des Verzeihens und Vergebens (André Comte-Sponville). Sie ist aber keine absolute Tugend, weil sie bei dem Gerechtigkeitssinn an ihre Grenzen stößt. Die Barmherzigkeit ist etwas, was ein höher gestellter Mensch gegenüber niedriger gestellten Menschen praktizieren kann oder Gott gegenüber dem Menschen[12]. Die Barmherzigkeit hat also eine „gönnerhafte Nuance“, die dann gegen den Gerechtigkeitssinn verstößt, wenn eine Machtposition ausgenutzt wird, um dem Gerechtigkeitsprinzip nicht zu folgen.[13]
    • Sanftmut: Die Sanftmut ist die Tugend der Schwachen, die Ungerechtigkeit der Welt mit Gleichmut zu ertragen, könnte man ketzerisch sagen. Wer kann sanftmütig bleiben, wenn ständig Unrecht geschieht? Sanftmütig kann derjenige ohne große Mühe sein, der nicht der Gewalt der Herrschenden unterliegt. Wer sanftmütig ist, ist nicht gewalttätig aus Zorn oder Rache und will keine Vergeltung üben. Die Sanftmut ist insofern eine „schwache Tugend“, als sie dann zur Untugend (feige Duckmäuserei) wird, wenn eigentlich der Zorn wegen begangenen Unrechts notwendig wäre.
    • Dankbarkeit: Die Tugend der Dankbarkeit ist die des Anerkennens und des Würdigens empfangener Wohltaten oder Geschenke. Wer dankbar ist, erbringt dem Geber die Ehre, die ihm gebührt. Sie führt zu einem Ausgleich zwischen denjenigen, die etwas gegen und jenen, die etwas empfangen haben.
    • Unbestechlichkeit: Wer die Tugend der Unbestechlichkeit ausübt, will damit klarstellen, dass er sowohl im direkten Sinne (Geld) als auch im übertragenen Sinne (Vergünstigen aller Art) nicht verführt werden kann etwas zu tun oder zu unterlassen, was seinen Prinzipien widerspricht. Diese Tugend ist stark mit der Ehrlichkeit und der Aufrichtigkeit gekoppelt, weil die Menschen die ehrlich und aufrichtig sind, am wenigsten für Korruption anfällig sind.   
  • Tugend als Karrierekiller: Die Tugend kann man als Einstellung oder Haltung definieren, die jemand einnimmt und somit als Voraussetzung und Grundlage eines bestimmten Verhaltens dient. Wenn jemand also großzügig ist, dann wird er jemand, der in wirtschaftlicher Not ist, aufgrund seiner Einstellung helfen – auch wenn er damit in Schwierigkeiten gerät[14]. Die Summe dieser Tugenden, die sich jemand angeeignet hat und die er versucht zu leben, könnte man als Charakter bezeichnen. Etwas, was heutzutage eben abhanden zu kommen scheint, ist die Auffassung, dass ein Mensch so etwas wie eine positiven Charakter haben sollte. Wie viele korrumpieren ihre eigene Gesinnung, wenn sie etwa als Journalisten sich der Wahrheit verpflichtet sehen müssten, aber wissen, dass Artikel, die gegen dem Zeitungsverlag nahestehende Politiker gerichtet wären, nicht erlaubt sind[15]. Ich hatte bereits darüber philosophiert, dass der Anständige in der Politik einen schweren Stand und dort wohl kaum eine „Bilderbuchkariere“ hinlegen kann[16]. Ehrlichkeit als Tugend wäre in der Politik wohl hinderlich, weil die Lüge ein Teil des Systems ist, das errichtete wurde, um Politik so zu betreiben, dass sie primär dem eigenen Vorteil dient. Wer also in der neuen „Ampelkoalition“ als Minister sagen würde, dass er sich an sein Versprechen halte würde, welches er vor der Bundeswahl gegeben hatte, dass es keine Impfpflicht geben würde, würde sein Ministeramt wohl gleich wieder aufgeben müssen. Er passt dann seine Meinung so an, dass sie mit dem Regierungskurs konform geht – aufrichtig zu sein wäre dann irgendwie anders.
  • Transzendente Verankerung: Rein materialistische Philosophen werden dann Probleme bekommen, die Tugenden als etwas zu definieren, das jenseits unserer Wirklichkeit in einer transzendenten Welt zu verorten ist, also dass es Prinzipien gibt, die jenseits menschlicher Einflussmöglichkeiten bestehen. Für sie ist diese jenseitige Welt überhaupt nicht existent, sondern nur alles, was mit unseren Sinnen erfassbar ist, wäre nach ihrer Auffassung die einzige Wirklichkeit. Schon gar nicht könnte ein atheistischer Philosoph von der Hypothese ausgehen, dass diese Tugenden etwas sind, was von Gott gewollt ist. Es gibt aber hierzu einige Indizien, dass Tugenden nicht allein Menschenwerk sind:
    • Absolute Gerechtigkeit: Alle Religionen nehmen an, dass es eine absolute Gerechtigkeit gibt. In den monotheistischen Religionen ist es das Wirken eines transzendenten Gottes, der diese Gerechtigkeit durch eine überirdische Gerichtsbarkeit herstellt. In den fernöstlichen Religionen (Buddhismus, Hinduismus) ist es das Prinzip des Karmas, das einen Ausgleich schafft, in dem die Schuld in einem Leben in das nächste irdische Leben übergeht, wo die Schuld wieder abgetragen werden muss.
    • Zehn Gebote und Bergpredigt: Diese biblischen Zeugnisse geben Auskunft darüber, was Gottes Wille ist. Sie bilden das Gerüst für ein tugendhaftes Leben, das von Gottes- und Nächstenliebe geprägt sein sollte[17].
    • Gewissen: Ich bin der Überzeugung, dass das Gewissen etwas ist, was uns „in die Wiege gelegt“ wurde“[18]. Es ist sicher richtig, dass dem Menschen durch eine Erziehung sehr viel tugendhaftes Verhalten beigebracht werden muss und es einer stetigen Übung bedarf, um dieses zu festigen. Aber jeder weiß, dass das Lügen, das Töten und das Stehlen – auch unabhängig von der Erziehung – eigentlich Unrecht ist. Altruistisches Verhalten scheint etwas zu sein, was sogar angeboren ist, denn sogar kleine Kinder verhalten sich altruistisch[19].
    • Nahtoderfahrungen: Die Nahtoderfahrungen lehren, dass jeder in seiner Lebensrückschau erkennt, wo er versagt hat und wo sein Leben gelungen war. Es scheinen dabei überirdische Prinzipien als Messlatte angelegt zu werden, bei denen ein tugendhaftes Leben als ein Erfüllen vorgenommener Absichten („Seelenplan“) gewertet wird, ein Abweichen hiervon als ein Versagen.

Lohnt sich ein tugendhaftes Verhalten? Rein ökonomisch wohl nicht, denn wir sehen leider allzu oft, dass dies nicht der Fall ist. Aber auf die lange Bank gesehen, ist doch ein Leben mehr als nur die reine biologische Existenz, wenn man kein reiner Materialist oder Atheist ist. Deshalb sollten die tugendhaften Menschen sich selbst Mut zusprechen und sagen: Ehrlich währt am längsten.    

© beim Verfasser

 

[1] Mehr zu diesen beiden Begriffen hier: https://perikles.tv/leserbriefe/867-dienen-oder-herrschen-goettlich-gewollte-oder-satanische-verhaltens-modi

[2] https://www.schulz-von-thun.de/die-modelle/das-werte-und-entwicklungsquadrat

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Nicolai_Hartmann

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Helwig

[5] Literatur hierzu: André Comte-Sponville: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben (https://www.google.de/books/edition/Ermutigung_zum_unzeitgem%C3%A4%C3%9Fen_Leben/y4hrAgAAQBAJ?hl=de&gbpv=1&printsec=frontcover ), Martin Seel: 111 Tugenden, 111 Laster: Eine philosophische Revue (https://www.amazon.de/s?k=111+tugenden+111+laster&adgrpid=70822790053&gclid=Cj0KCQiAjc2QBhDgARIsAMc3SqQzBvryKhqGuCBe7UFoDCzfM_QDh0ByYjDegmmlPLLjRZaozHzc4h4aAuthEALw_wcB&hvadid=352962519532&hvdev=c&hvlocphy=9068346&hvnetw=g&hvqmt=b&hvrand=17266226560588783264&hvtargid=kwd-298761557222&hydadcr=466_1759239&tag=googhydr08-21&ref=pd_sl_60vii68f65_b)

[6] https://www.bod.de/booksample?json=http%3A%2F%2Fwww.bod.de%2Fgetjson.php%3Fobjk_id%3D50406%26hash%3D3756135b3a8b386ba966ab8c2b3c6ce5 : Günther Birkenstock, Grundfragen des Lebens, 2008, S. 84 ff. (7. Kapitel: Was ist das Gute und warum ist es in der Welt).

[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Tugend#B%C3%BCrgerliche_Tugenden

[8] https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%A4%C3%9Figung

[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Geduld

[10] Als Beispiel könnte man anführen: Wenn jemand in der Zeit politischer Verfolgung einen unschuldigen Menschen bei sich in der Wohnung versteckt und er gibt bei Betreten eines Suchkommandos auf eine Anfrage an, dass sich der Gesuchte nicht in der eigene Wohnung aufhält, dann wäre diese Lüge vertretbar.

[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Toleranz

[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Barmherzigkeit;  

[13]https://de.wikipedia.org/wiki/Verlorener_Sohn:  In dem Gleichnis vom verlorenen Sohn wird dieses Gerechtigkeitsprinzip insofern verletzt, als der Sohn, der immer treu beim Vater geblieben ist, sich gegenüber dem zurückgekehrten Sohn zurückgesetzt fühlt. Warum wird für ihn, der immer treue Dienste geleistet hat, nicht ebenfalls ein Freudenfest gefeiert, sondern nur für den verloren gegangen Sohn, der alles Vermögen verprasst hat?  

[14] Ich hatte in meiner Tätigkeit als Schuldnerberater häufig mit ALGII-Empfängern zu tun, denen ich Bargeld gegeben hatte, obwohl die Empfänger diese Gelder bei den Job-Centern hätten melden müssen.

[15] Die Neue Westfälische ist eine 100 %-Tochter der SPD – niemand wird dort einen Artikel gegen den amtierenden SPD-Kanzler Olaf Scholz schreiben dürfen.

[16] https://perikles.tv/diskussionen/1468-warum-in-der-politik-anstaendige-keine-chance-haben

[17] https://perikles.tv/1659-was-ist-naechstenliebe

[18] https://perikles.tv/philosophie-und-religion/1530-sind-wir-auf-dem-weg-in-eine-gewissenlose-republik

[19] Dieses Verhalten konnte sogar bei jungen Schimpansen beobachtet werden und bei Kindern unter 2 Jahren; https://www.edu.tum.de/fileadmin/tuedz01/www/Sch%C3%BClerkonferenz/Seminararbeiten_2013_2/1400--Guethoff--Altruismus.pdf. Ist der Altruismus sogar ein „göttliches Geschenk“ an alle Geschöpfe?

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